GRAFFITI

Mein Bilderarchiv zu GRAFFITI ist wohl eines der umfangreichsten in der Region, weil ich mich seit über 40 Jahren bei allen Städtereisen diesem vergänglichen Kunstausdruck widme. Der, versteht sich, nicht immer vor meinen Augen besteht. Vandalismus und Schmierereien sind nicht mein Ding. Dennoch nehme ich sie als Ausdruck kommunikativer „Notdurft“ wahr und fotografiere sie auch als Zeit-Zeugnisse des Zorns.
Viele meiner Bilder zwischen San Francisco und Kapstadt gibt es mittlerweile nicht mehr vor Ort. Umso mehr erfreue ich mich an einem Archiv von ca. 4000 hochauflöslicher Aufnahmen, die  hoffentlich das Kunstschaffen, den Zorn, die Ironie und die Ideale dieser Sprayer bewahrt haben. 

GRAFFITI sind in der Gegenwart fast in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Während noch in den 70-er/80-er Jahren nahezu jedes Graffito als Sachbeschädigung angesehen wurde – man denke nur an die ersten, fast schüchtern-verspielten Versuche eines Harald Naegeli, der jene mit 6 Monaten Gefängnis u. hoher Geldstrafe büßte – kann man heute fast von einer STREETART-Generation sprechen, insbesondere in städtischen Milieus.

Dazu zählen sicher nicht zahlreiche Hausbesitzer oder öffentliche Eigentümer, deren Besitz ohne Absprache „verunziert“ wurde, denn nach wie vor kommt es, eher sogar häufiger als früher, zu wilden Schmierereien oder illegalen Beklebungsaktionen. So haben Versicherungen inzwischen Zusatzklauseln für Graffiti-Beschädigungen (gegen höhere Prämien) u. in vielen größeren Städten gibt es spezialisierte Reinigungsfirmen. Während bei Harald Naegelis Interventionen im öffentlichen Raum noch ausnahmslos der gesellschaftskritische Aspekt im Vordergrund stand – so verstand er seine Aktionen als „Aufstand des unterdrückten Unbewussten“ gegen die zunehmende Uniformierung und Unbewohnbarkeit der Stadt – geht es vielen Sprayern heute eher um Identitätsfindung oder Protzerei, indem sie ihre „Tags'“ – also ihre persönliche Handschrift – deutlich sichtbar hinterlassen.
Auch das Bekleben von Verkehrsschildern, Türen u. Fenstern mit zäh haftenden Stickern, das gezielte Übersprayen konkurrierender Graffiti oder missliebiger Werbeplakate bis bin zum Zerstören von Wartehäuschen, Plakatständern oder geparkten Fahrzeugen haben mit STREETART nichts zu tun, sondern sind eher ordinäre Sachbeschädigungen.

Gleichermaßen aber werden heute immer mehr Graffiti-Sprayer/innen in den Status von Künstlern erhoben und mit öffentlichen oder privaten Aufträgen für Fassadengestaltungen beauftragt.
STREETART-Museen und URBAN-ART-Festivals schießen geradezu aus dem Boden und dort, wo die Sprayer früher mit nächtlichen Polizei-Hub-schraubern verfolgt wurden, bietet man ihnen jetzt eigens errichtete Wände zum Sprühen an.
Mehr als 70 000 Besucher hatte das Berliner STREETART-Event „The Haus“ 2017; Wanderausstellungen wie „Magic City“ mit Graffiti auf montierbaren Stellwänden hatten überaus regen Zulauf in München oder Dresden; zunehmend entstehen auch Galerien mit dem Schwerpunkt „STREETART“ – zuletzt das „MUCA“ in München. Letztere haben sehr wohl registriert, dass der spekulative Kunstmarkt längst schon den URBAN-ART-Sektor kapitalisiert hat. Namen wie Banksy, Blek le Rat, Cone the Weird u.v.a. sind im Kunsthandel inzwischen fast so geläufig wie die von Beuys, Baselitz oder Basquiat, wobei letzterer eine erste künstlerische Schnittstelle mit Graffiti hatte.

Banksys Teil-Schredderaktion seines relativ schlichten Graffito „Girl with Balloon“ anlässlich einer Versteigerung bei Sothebys im Oktober 2018 stellt wohl den vorläufigen Höhepunkt raffinierter Vermarktungstechniken der immer stärker diversifizierenden Urban-Art-Szene dar.
Und ein großes Fragezeichen ist hinter Banksys Erklärung angebracht, es handelte sich bei dieser Teilzerstörung um eine Kritik am Kunstmarkt. Die Käuferin nahm das Bild trotzdem für ca. 1,2 Millionen Euro an u. offensichtlich ist es durch diese Aktion jetzt schon das Doppelte wert.
Seit März 1919 hängt es als Dauerleihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart – was die dortigen Kuratorlnnen als großartigen Werbecoup verbuchen. Auch viele Metropolen haben inzwischen das hohe Potenzial dieser Kunst für ihr Stadtmarketing erkannt und veranstalten große Kulturprojekte wie „Stadt, Wand, Kunst“ in Mannheim, das „Metrolink“‚ in Heidelberg oder den „Artwalk“ in Saarbrücken. So wird der öffentliche Raum zur Galerie, ohne Eintrittsgelder oder Wartezeiten. Ganz nebenbei bringen diese subventionierten Aktionen Farbe, Diskussionsstoff und nicht zuletzt interessierte Touristen in die Städte.

Natürlich stellen sich angesichts dieser öffentlichen Fürsorge und dem rasch wachsenden Anteil kommerziell geschaffener und gehandelter STREETART-Werke auch berechtigte Fragen an die früher als überwiegend rebellisch-anarchistisch angesehenen Ausdrucksformen. Blüht ihnen jetzt das gleiche Los wie der Ikonographie Che Guevaras, dessen Hochglanz-Konterfei inzwischen auch das Büro von Coca Cola-Managern ziert; oder wie der ehemals antibürgerlichen Punk-Bewegung, die nahezu restlos vom Modemarkt aufgesogen wurde?

Klar ist, dass administrativ geförderte STREET-ART und privat subventionierte u. gleichzeitig verwertete Großevents ihren rebellischen Kern zwangsläufig infrage stellen, ihn vielleicht sogar an postmoderne Beliebigkeit verlieren, bestenfalls noch von humanitär gemeinten Appellen flankiert.
Die „Szene“ der eher im Untergrund tätigen STREETART-Aklivisten rümpft jedenfalls die Nase mit deutlicher Verachtung hinsichtlich der „gekauften“ Karrieristen, die sich den wohlfeilen neuen Kunstmarkt gewinnbringend erschließen wollen.
Und Carsten Probst weist in seinem Essay „URBAN ART und STREETART“ zurecht auf diese Diskrepanz hin: ,,Zweifellos sind Murales in Ramallah, der Bronx oder in der mexikanischen Provinz von anderer kommunikativer Relevanz als auf einer von Kulturmanagern eröffneten „URBAN-ART-Biennale“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte“.

Doch dem gegenüber bietet die Befreiung aus dem Ruch des Illegalen, also faktisch Kriminalisierten, eine große Chance für die nachhaltigere Entfaltung subversiver Ideen und ungewöhnlicher Formensprachen eben ohne Zeit- und Verfolgungsdruck. Denn neben girlandenhafter Beliebigkeit oder banalen Ego-Botschaften, die man gerade bei den Wanderausstellungen u. Galerien-Neugründungen zunehmend findet – lassen sich bei öffentlich geförderten Kulturprojekten durchaus auch gesellschaftskritische und/oder avantgardistische, den Diskurs anregende Werke schaffen. Großflächig angebrachte Häuser-Graffiti inmitten urbanen Lebens erzeugen dafür z.B. wesentlich wirksamere Impulse als die besten illegal produzierten Werke, deren Ausführqualität u. Sichtbarkeit doch stark limitiert sind. Die Idee von öffentlichen Galerien in den Stadtlandschaften, frei und gratis zugänglich, ist im Kern ein alter Polis-Gedanke. Intelligent gestaltete Graffiti setzen Duftspuren in die von Werbeplakaten u. deren Heilsbotschaften überfrachteten Quartiere der Metropolen. Sie können durchaus identitätsstiftend wirken u. selbst in gesichtslosen Trabantenstädten ermutigende Zeichen des Zusammenhalts verankern.

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