Ein oft überraschender Aspekt beim Fotografieren ist das Erkennen einer menschlichen Gestalt, eines Gesichts oder auch nur einer menschlichen Kontur in alltäglichen Motiven. Fast jede/r weiß (zumindest aus seiner Kindheit), dass sich beim Betrachten der ziehenden Wolken Gestalten entwickeln; manchmal dämonenhaft zerfließende Gesichter oder Phantasiewesen mit körperhaften Formen. Auch in den zerklüfteten, erodierenden Felsküsten an den Meeren haben Wind, Wasser und Frost skulpturale Werke gestaltet, die der Phantasie viel Raum für Motivdeutungen geben. Mitunter changieren diese Motive durch den tageszeitlich sich verändernden Lichteinfall. In Holzstrukturen, in Eiswelten, auf abblätternden Mauerresten, im Rost lassen sich diese versteckten Gestalten fotografisch aufspüren…vorausgesetzt, man hat diesen 2. Blick…
Als ich im letzten Herbst mit meiner Kamera am Meer in Colonia St. Jordi entlangstreifte, wie immer auf der Suche nach fotografischen Überraschungen jenseits der üblichen Bildpostkarten, fiel mir hinter einer zerbröselnden Natursteinmauer ein safrangelber Agavenstumpf auf. Zunächst interessierten mich daran nur die sanften, warmen Farbübergänge. Ich stieg über die Mauerreste und bahnte mir durch Plastikabfälle und Bruchsteine einen Weg. Dort zückte ich meine Kamera und „schoss“ einige Makros dieser Farbverläufe. Schon wollte ich wieder zurück ans Meer, warf einen letzten Blick auf diesen Stumpf und wurde plötzlich hellwach: Das war er wieder – der 2. Blick, der mir seit Jahren ganz unscheinbare Dinge zum Leben erweckte: Aus dem Schaft und den Blätterresten schälte sich ein scheinbar meditierendes Gesicht, das eine große, träumerische Ruhe ausstrahlte.